Das Kreuz der Erziehung

Auf dem Weg von der autoritären über die demokratische Erziehung zur „guten Autorität“ geraten viele Eltern in Orientierungsnöte. Da hilft nur: sich auf das Kreuz einlassen.

Erziehungsratgeber an allen Ecken

Was tun? Sabrina (4) will sich nicht anziehen, die Geschwister (5, 7) geraten sich bei jeder Mahlzeit wegen ungleich großer oder schöner Portionen in die Haare, Lukas (9) hat wieder mal seine Haushalts-Pflichten vergessen, Lisa (11) knallt bei jedem Versuch elterlicher Einwirkung die Türen hinter sich zu. Erziehung verlangt tagtäglich kleine und große Entscheidungen und Handlungen, die viel Mühe und Zeit kosten und längst nicht immer von Erfolg gekrönt sind.

Die vermeintlichen Retter sind schon da: eine Flut von Büchern, Broschüren, Zeitschriftenartikeln und neuerdings Reality-Dokus à la „Super Nanny“ im Fernsehen, die allesamt die Nachfrage nach mehr elterlicher Erziehungskompetenz zu erfüllen versprechen. Ihre Parolen heißen „Grenzen setzen“, „Mut zur Erziehung“, „Die Verwöhnungsfalle“, „Gute Autorität“; sie markieren den aktuellen Zwischenstand einer gerade mal 200 Jahre alten Diskussion über den „richtigen“ Weg mit Kindern umzugehen.

Verwissenschaftlichung der Pädagogik

Jahrhunderte lang galt es bis dahin als selbstverständlich, Kinder möglichst schnell mit den Aufgaben eines erwachsenen, vollwertigen Mitglieds der Gesellschaft zu betrauen. Die Existenz- und Alterssicherung der Elterngeneration war das vordringliche Motiv, Kenntnisse über die kindliche Entwicklung waren Mangelware. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert beginnen Pädagogen wie Rousseau und Pestalozzi und auch Theologen, anfangs äußerst umstritten, ihre Zeitgenossen über den Eigenwert der Kindheit als einer sensiblen, entscheidenden Lebensphase „aufzuklären“. Erste Elternunterweisungen und Ratschläge für die „richtige“ Erziehung erscheinen; mehr und mehr geraten die Erziehung, ihre Bedingungen und Möglichkeiten sowie die Bedeutung der kindlichen Entwicklungsphasen ins Zentrum des Interesses, werden Forschungsgegenstand. Der Glaube, „missratene“ Kinder seien eine Strafe Gottes oder ein aus anderen Gründen zu ertragendes Schicksal, macht mit der Verwissenschaftlichung der Pädagogik und später der Psychologie im 20. Jahrhundert einer neuen Erkenntnis Platz: dass nämlich die Eltern, vor allem die Mütter, und andere Bezugspersonen durch die Art ihres Umgangs mit den Kindern nachhaltig für deren Entwicklungsstörungen, Fehlverhalten, Auffälligkeiten, auch psychische Krankheiten verantwortlich sein könnten. Gleichzeitig nimmt mit der zunehmenden Verbreitung psychologisch-pädagogischen Erziehungswissens die Überzeugung von der elterlichen/mütterlichen Machbarkeit der kindlichen Persönlichkeit ihren Lauf.

Die Retter sind in Massen da

Verschiedene Erziehungsstile werden wissenschaftlich unterschieden und diskutiert, die überlieferte autoritäre Erziehung in Frage gestellt und verurteilt, antiautoritäre Alternativen als geeigneter befunden und ausprobiert, eine Pädagogik der freien Auswahl zwischen „laisser-faire“, „autoritär“ und „demokratisch“ oder „sozialintegrativ“ proklamiert. Als Königsweg setzt sich unter Erziehungswissenschaftlern schließlich eine „zurückhaltende, auf die kindlichen Bedürfnisse eingehende Autorität“ durch – der „autoritative“ Erziehungsstil. Ab Mitte der 80er Jahre wird die Pädagogik der Aushandlungsprozesse betont: Eltern sollen mit ihren Kindern fair und demokratisch, die jeweils unterschiedlichen Bedürfnisse berücksichtigend verbal verhandeln und schließlich für alle Beteiligten akzeptable Entscheidungen treffen – über Fernsehen und Computer, Hausaufgaben, Süßigkeiten, Klamotten, Ordnung, Schlafenszeiten … Auch die Elternvorstellungen über die Erziehungsziele haben sich in den vergangenen 40 Jahren drastisch verändert. Nicht mehr Disziplin, Gehorsam und Anpassungsbereitschaft wird den Kindern abverlangt; jetzt stehen Selbstständigkeit, Durchsetzungsvermögen und Individualität an oberster Stelle.

Die Eltern sind an allem schuld

Gleichzeitig verändern sich die familialen Strukturen und Leitbilder. Zwar wachsen die meisten Menschen in unserer Gesellschaft – zumindest in den ersten Jahren – noch in einer „traditionellen“ Familie auf. Doch unübersehbar entwickeln sich neben diesem (Kern-) Familienmodell – Mutter plus leiblicher Vater plus Kind(er) – vielfältige neue konkurrierende Formen von Elternschaft. Leitbilder für das Erziehungshandeln, die Stabilität, Sicherheit und Vorhersehbarkeit versprachen, sind in Frage gestellt, geeignete „moderne Alternativen“ und Handlungsmuster etwa für die verschiedenen Rollen in Patchwork-Familien fehlen. So muss sich jede Familie individuell das eigene passende Muster für ihr Zusammenleben „stricken“ – eine Aufgabe, die viele überfordert und ambivalente Erziehungsformen zwischen den Extremen hervorruft. Das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft, in der jeder seine individuelle Lebensführung selbst bestimmen darf und muss, in der schon die nächste Nachbarfamilie nach anderen Regeln lebt, erzeugt Unsicherheit, Ängste, Zweifel und verstärkt die Neigung zum Rückzug in die überschaubare Privatheit. Eltern, die ihre Kinder ernsthaft auf ein Leben in der Gesellschaft vorzubereiten versuchen, müssen ihre vermeintlichen Orientierungen und Gewissheiten immer neu in Frage stellen lassen und verteidigen. Das erfordert Kraft.

Ist denn eine partnerschaftliche Erziehung nicht bereits ein Widerspruch in sich ist?

„Irgendwo auf dem Weg von autoritären Traditionen hin zu demokratischen Erziehungsidealen scheint deutschen Eltern der selbstverständliche Umgang mit ihren Kindern abhanden gekommen und direkt durch Schuldgefühle und ein dauernd schlechtes Gewissen ersetzt worden zu sein“, resümiert die Journalistin Iris Mainka. Zwar stehen Eltern weithin zu ihrem Anspruch, auf keinen Fall autoritär, sondern partnerschaftlich mit großer Diskussionsbereitschaft zu erziehen; sie wollen nicht einfach Regeln setzen, sondern erklären und überzeugen. Andererseits: Die heute 25- bis 35-jährigen, also die potentiellen Eltern, haben in ihrer Kindheit am eigenen Leib die Auswirkungen eines durchgreifenden Wandels der Erziehungsstile und die – unsichere – Erprobung neuer (Misch-)Formen selbst erlebt. Können sie heute ohne etablierte Vorbilder und Modelle, allein auf Basis einer Abkehr von überkommenen Erziehungstraditionen überzeugt und standfest erziehen? So manche anstrengende, Nerven zehrende Erziehungssituation nimmt ein jähes Ende, wenn Eltern mangels wirksamer Lösungen, sozusagen zum Selbstschutz, am Ende doch „streng durchgreifen“. Dem entsprechen gesellschaftlich, von der Diskussion über (vermeintlich) immer mehr „verhaltensauffällige“ oder gar „unerziehbare“ Kinder angestoßen, neue Tendenzen zu „mehr Autorität in der Erziehung“. Sie nähren Zweifel: Ist denn eine partnerschaftliche Erziehung nicht bereits ein Widerspruch in sich ist? Eltern und Kinder sind nun mal keine gleichberechtigten Partner: Kinder sind abhängig und hilfsbedürftig, Eltern tragen die Verantwortung. Über einen konstruktiven Weg, der beide Seiten, eine unumschränkte Wertschätzung des Kindes und eine positive, manchmal auch leidvolle Autoritätsausübung vereinigt, sind sie sich oft wenig im Klaren. Gefragt ist eine Neuinterpretation von Autorität in der Erziehung, die liebevoll Sorge für den Nachwuchs trägt und kraft des Erfahrungs- und Altersvorsprunges die junge Generation sicher, zuversichtlich und geduldig ins Leben begleitet.

Sich auf den Weg einlassen: als ganze Person

Das Leben mit Kindern ist spannend und oft beglückend. Aber weder ist es im Voraus berechenbar, noch spendet es pausenlos Glück; vielmehr erweist es sich oft als hindernis- und kurvenreich und zehrt an den Kräften. Vielleicht beruhen die derzeitigen Verunsicherungen von Eltern ja auch darauf, dass ihnen diese Selbstverständlichkeit nicht mehr bewusst ist. Sie sind gefordert, sich auf diesen Weg einzulassen als Personen, mit ihren Stärken und Schwächen, ihren Begabungen und Fehlschlägen, ihrer Sorge und ihrem Mut. Christen könnten sagen: Erziehung ist ein Kreuz – ein Symbol für die Einheit und Spannung von Gelingen und Scheitern, von Sehnsucht und Begrenzung. Seine vier Dimensionen lassen sich beschreiben mit

  • das Kind bejahen,
  • Gelassenheit und Humor aufbringen,
  • Wert- und Sinnorientiert leiten,
  • die eigene Unzulänglichkeit annehmen.

Das Kind bejahen,

… es liebend annehmen in seiner Einzigartigkeit, Unbeschwertheit, Aktivität, Experimentierfreudigkeit, Unvoreingenommenheit, Neugier, Hilflosigkeit, Unsicherheit, Auflehnung ist die erste und wichtigste Grundbedingung, damit Erziehung gedeihen kann. Das heißt nicht, dass Eltern nur gute und angenehme Gefühle den Kindern gegenüber haben dürfen, sondern auch negative, ablehnende und ohnmächtige. Eine pflichtgemäße“ Haltung, ständig alles zu akzeptieren, zu entschuldigen und dem Kind Unanehmlichkeiten abzunehmen, verfehlt das Ziel liebevoller Zuneigung.

Der Ruf nach mehr Grenzen, einem verstärkten „Nein“ in der Erziehung wurde in letzter Zeit immer lauter. Ein Nein kann jedoch erst sinnvoll wirken, wenn die Basis ein unbedingtes Ja ist. Kinder prüfen ständig das Maß der elterlichen Liebe durch ihr Verhalten. Je sicherer sie dieser Liebe sind, umso mehr „folgen“ sie den Eltern, umso weniger sind sie genötigt, deren Zuneigung auf die Probe zu stellen. Eltern werden enttäuscht, wenn sie kindliches Wohlverhalten als Vorbedingung für liebevolle Zuwendung erwarten. Kinder spüren die Authentizität des Satzes „Gerade weil ich dich liebe, weil du mir viel Wert bist, mute ich dir und mir diese Grenze, diese Regel zu.“ Umso eher akzeptieren sie „Spielregeln“, und umso mehr erlangen Eltern Zuversicht in die Zukunftswirkung ihrer Bemühungen.

Die eigene Unzulänglichkeit annehmen

… zu können, sich selbst als unvollkommene, unfertige Personen mit Ecken und Kanten zu akzeptieren, erspart Eltern die Gefahr, sich ständig zu überfordern. Eltern können nicht alles richtig machen; sie dürfen versagen. Aber: Sie sind gefordert, sich auf einen Entwicklungs- und Wachstumsprozess mit ihren Kindern einzulassen, aus Fehlern zu lernen und sich jeden Tag wieder neu auf den Weg zu machen.

„Eltern brauchen Mut zur Unvollkommenheit“ fordert der Bestseller-Pädagoge Jan-Uwe Rogge. Gerade Eltern, die bewusst erziehen und sich ihrer Verantwortung stellen möchten, geraten oft in ein Dilemma, das die rezeptartigen Empfehlungen einschlägiger Erziehungsratgeber noch verstärken: Du musst alles richtig machen, das perfekte Vorbild sein. Doch ihre Vorbilder suchen Kinder sich selbst – und Perfektionisten sind oft nicht die angenehmsten Mitmenschen. Im Gegenteil ist es für Kinder eine wichtige Erfahrung, dass ihre Eltern keine unfehlbaren Übermenschen sind, sondern Schwächen haben und sich irren können. Eltern, die sich entschuldigen und über ihre eigenen Grenzen und Befürchtungen reden können, tun damit einen großen Schritt zur Erfahrung von Nähe und Beziehung und ermöglichen ihren Kindern, ihrerseits trotz der eigenen Unvollkommenheiten ein positives Selbstbild aufzubauen.

Wert- und Sinnorientiert leiten

… ist für Eltern eine anspruchsvolle Aufgabe. Viele halten sich heute in Bezug auf Wertklärung und Konventionen eher zurück, möchten angesichts gesellschaftlicher Pluralismus- und Liberalismus-Tendenzen keine verbindlichen Ausrichtungsvorgaben machen oder fühlen sich dadurch verunsichert. Praktisch jedoch erfordert jede Erziehungssituation eine Entscheidung für oder gegen bestimmte Werte; sie postuliert die Rücksicht auf Schwächere, Verzicht zugunsten der Gemeinschaft, eine altersgemäß gerechte Aufteilung von Gütern und Pflichten, den verantwortungsvollen Umgang mit den Dingen und der Zeit. Zudem vermitteln Eltern Tag für Tag unausgesprochen, sozusagen „beiläufig“, was ihnen im Leben wichtig ist - vielleicht auch wie man sich durchsetzt, Menschen und Dinge zum eigenen Vorteil benutzt und die eigenen Ziele erreicht, ohne sich viel um die Belange von anderen zu kümmern? Eltern haben also nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu die Verpflichtung, ihren Kindern Regeln und Orientierungsmaßstäbe vorzugeben und auch vorzuleben. Welche Werte möchten sie ihren Kindern vermitteln? Mit welchen Grundsätzen möchten sie die Kinder konfrontieren? Sind sie bereit, sich als Personen zur Verfügung zu stellen, damit die Kinder an ihnen wachsen und reifen können? Widersprüche zwischen pädagogischen Forderungen hier und eigenem Verhalten dort fragen Kinder treffsicher an; sie haben – mit individuell unterschiedlicher Ausprägung – die Eigenart, Sinn zu hinterfragen und auszutesten. Sie brauchen ein ordnendes und wertsetzendes Gegenüber, um sich zu orientieren und lebenstüchtig zu werden.

Dazu gehört auch, nicht „alles“ für die Kinder zu tun, sondern das jeweils Sinnvolle. Das ist oft der anstrengendere Weg. Doch Verwöhnen und übermäßiges Versorgen der Kinder schadet und behindert die Entwicklung von Frustrationstoleranz, Sozialverhalten, Kompetenzerleben und Glücksempfinden und begünstigt ein Gefühl von Wertlosigkeit, wie neuere Forschungen zeigen.

Gelassenheit und Humor aufbringen

damit schützen sich Eltern am wirkungsvollsten vor dem Burnout. Ein Gesprächsklima, das durch Vertrauen, Offenheit und die Bereitschaft zu Auseinandersetzungen statt durch ein nur punktuelles Abfragen von Informationen durch Gebots- und Verbotssätze geprägt ist, die Fähigkeit, herzhaft über sich selbst und kindliche „Untaten“ lachen zu können, Freude und Spaß mit und an den Kin­dern: Das ist Balsam für die ganze Familie, eröffnet in verzwickten Konfliktsituationen Auswege aus Teufelskreisen und verhindert, dass Erziehung zur Prinzipienreiterei verkommt.

Die Balance zu finden zwischen ernsthafter Konsequenz und Regeleinhaltung einerseits und dem Einräumen von Ausnahmen und „Fünf gera­de sein lassen“ andererseits bleibt für Eltern eine ständige Herausforderung. Die Distanz, die dazu notwendig ist, gelingt am besten in einem Bewusstsein und Vertrauen, das ein Gebet von Johann Michael Sailer ausdrückt:

 

Eva Feuerlein-Wiesner

Mein Gott, gib mir Weisheit, meine Kinder zu leiten,

Geduld, sie zu unterrichten,

Wachsamkeit, sie durch Beispiele zum Guten zu gewöhnen,

 Zärtlichkeit, sie zu lieben,

Liebe, sie zu strafen,

Kraft, sie zu bessern,

Gnade, sie zum Guten zu erziehen.